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Angeborener Herzfehler

Wie eine Gewebespende diesem 26-Jährigen das Leben rettete

Nick Jeinsen hat vor drei Jahren eine Gewebespende  bekommen. Mit der neuen Herzklappe kann er wieder Sport treiben.

Nick Jeinsen hat vor drei Jahren eine Gewebespende bekommen. Mit der neuen Herzklappe kann er wieder Sport treiben.

Hannover. Dramatisch klingt Nick Jeinsen nie, wenn er über seinen Herzfehler spricht. Von Geburt an funktioniert seine Herzklappe an der Aorta nur eingeschränkt. Zwei der drei Lappen, durch die das Blut von der linken Herzkammer zur Hauptschlagader fließen soll, sind zusammengewachsen. Sie öffnen sich deshalb nicht richtig. Außerdem ist die aufsteigende Ader erweitert, das erhöht das Risiko. „Ich konnte aber ganz normal Fußball spielen und habe das auch mit drei Jahren angefangen.“ Es gibt jedoch Einschränkungen, Achterbahn fahren ist tabu, wegen der Fliehkräfte. Auch im Tor darf der Junge nie stehen, weil ein starker Aufprall des Balls auf der Brust gefährlich sein kann. Der heute 26-Jährige wischt das beiseite. „Ich habe sowieso lieber im Sturm gespielt.“

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Die jährlichen Untersuchungen in der Kinderklinik der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) gehören für Nick Jeinsen zur Routine. Bis seine Ärzte eine Verschlechterung feststellen. „Die Pumpkraft der linken Herzkammer ließ nach. Das ist bei einem so jungen Patienten ein Alarmsignal“, erläutert Prof. Samir Sarikouch, Oberarzt in der MHH-Herzchirurgie. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Jeinsen in einen lebensbedrohlichen Zustand gerät. Die Ärzte raten dem damals 20-Jährigen zur Operation und setzen ihn auf die Warteliste für eine menschliche Herzklappe. Die gilt gesetzlich nicht als Organ, sondern als Gewebe. Anders als bei Organspenden sind in Deutschland mehrere Einrichtungen in der Vermittlung tätig.

Was sind Gewebespenden?

Gewebespenden lindern Krankheiten und tragen zur Heilung bei. Transplantiert werden Augenhornhaut, Herzklappen, Haut, Knochen, Sehnen, Bänder, Blutgefäße sowie die Eihaut (Amnionmenbran) der Plazenta, die zur Wundheilung bei Verbrennungen und Schleimhautverletzungen eingesetzt wird.

Anders als Organspenden sind Gewebespenden bis zu 72 Stunden nach dem Todeseintritt möglich. Ausnahme ist die Plazentaspende, die Frauen bei einer Kaiserschnittgeburt abgeben. Voraussetzung in den anderen Fällen ist eine Einwilligung des Verstorbenen zu Lebzeiten oder die Zustimmung der Angehörigen.

In einem Organ- und Gewebespende-Ausweis lässt sich einzeln angeben, welche Gewebe nach dem Tod entnommen werden dürfen. Viele Gewebe lassen sich bis zum Alter von 65 Jahren spenden, Haut und Augenhornhaut auch deutlich länger. Ärzte transplantieren in Deutschland rund 8000 Augenhornhäute im Jahr.

Bundesweit gibt es rund 30 Gewebebanken, die das gespendete Gewebe prüfen, aufbereiten und vermitteln. Das bundesweit größte Netzwerk von 26 Kliniken und 12 Gewebebanken ist die gemeinnützige Deutsche Gesellschaft für Gewebetransplantation in Hannover. Gesellschafter sind die Medizinische Hochschule Hannover sowie die Unikliniken in Dresden, Leipzig und Rostock.

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Nick Jeinsen muss sich gedulden. Lange fühlt er sich weiter fit, auch wenn die Werte zunehmend schlechter werden. Sport erscheint zunehmend riskanter, der junge Mann gibt deshalb das Joggen auf. Mit seiner Freundin darf er nur Kurzurlaub planen, denn jederzeit könnte eine für ihn passende Herzklappe bereitstehen. „Das war blöd, aber ich hatte mit dem Studium genug zu tun.“ Erst nach zweieinhalb Jahren kann Jeinsen operiert werden. Es war höchste Zeit, das zeigt sich bei der Operation. Dafür passt das Spendergewebe genau: Die Ärzte können die Aortenklappe in einem Stück mit einem gesunden Stück Schlagader transplantieren.

Die Ärzte wollen eine Herzklappe aus menschlichem Gewebe

Inzwischen geht Nick Jeinsen längst wieder joggen. Die Operation liegt drei Jahre zurück, der Medizinstudent hat gerade sein praktisches Jahr in verschiedenen Krankenhäusern begonnen. Den nüchternen Blick auf den Zustand des eigenen Körpers hat er sich bewahrt. „Ich habe mich immer darauf verlassen, dass meine Ärzte wissen, was wann notwendig ist.“ In seinem Fall war den Medizinern wichtig, ihm eine Herzklappe aus menschlichem Gewebe zu verpflanzen.

Die Spenderklappe wird dafür zuvor präpariert, alle menschlichen Zellen entfernt. Sie dient als Gerüst, auf dem sich nach der Implantation die körpereigenen Zellen des Patienten ansiedeln. Das patentierte Verfahren hat MHH-Herzspezialist Axel Haverich entwickelt. Innerhalb von zehn Jahren haben die MHH-Ärzte 180 dieser zellfreien Aorten- sowie 270 Pulmonalklappen transplantiert. „Wir wissen noch nicht, ob sie 20 oder 30 Jahre halten, sind aber sehr optimistisch“, berichtet Prof. Sarikouch. Die MHH hat zwei europaweite Studien zu dem Thema angeschoben. Besonders jungen Herzkranken eröffnet die Methode neue Lebensperspektiven. Nach bisheriger Erfahrung scheint das Zusammenspiel zwischen Herzmuskel und menschlichen Spenderklappen besonders gut zu funktionieren. „Der Herzmuskel muss das Blut gegen einen Widerstand auswerfen. Wir erhoffen uns, dass der Herzmuskel länger hält, weil die Klappen elastisch und beweglich sind“, erklärt Sarikouch.

Für junge Patienten öffnen sich neue Perspektiven

Bisher setzen Chirurgen meist biologische Herzklappen aus tierischen Gewebe ein. Das Problem: Der Körper erkennt das fremde Material, es kommt zu Abstoßung und vorzeitigem Verschleiß, so dass eine erneute Operation notwendig wird. Und bei einem künstlichen Implantat müssen Patienten ihr Leben lang blutverdünnende Mittel nehmen. „Für junge dynamische Menschen, die Sport treiben und Unfälle riskieren, wird das schnell gefährlich“, sagt Prof. Sarikouch. Eine seiner Patientinnen hat mit einer Spenderklappe bald ein dringend ersehntes zweites Kind bekommen.

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Doch für die Methode sind die Mediziner auf Gewebespenden angewiesen. Wenn Menschen vor ihrem Tod keine Einwilligung dafür geben, müssen Ärzte Angehörige ansprechen und Gewebebanken kontaktieren. „Angesichts des Kostendrucks ist in vielen Kliniken dafür einfach keine Zeit“, schätzt Sarikouch. Er glaubt, dass viele Menschen zu Spenden bereit wären. Doch nur eine Beteiligung zahlreicher mittelgroßer Kliniken könnte die Zahlen erhöhen.

Interview: „Viele Menschen empfinden eine Gewebespende als sinnvoll“

Martin Börgel leitet als Geschäftsführer die gemeinnützige Deutsche Gesellschaft für Gewebetransplantation. Die Einrichtung organisiert Gewebespenden und vermittelt Transplantate an Patienten.

Herr Börgel, was passiert, wenn eine Klinik einen Verstorbenen meldet, der als Gewebespender infrage kommt?

Häufig gibt es keinen Spenderausweis. Wir fragen in diesem Fall die Angehörigen, meist per Telefon.

Die Angehörigen haben gerade erst vom Tod eines nahe stehenden Menschen erfahren. Kommen Sie da nicht sehr ungelegen?

Zum Glück haben wir dann noch Zeit. Viele Gewebe können bis zu 48 Stunden, Augenhornhäute bis zu 72 Stunden nach dem Tod entnommen werden. Die Entscheidung für oder gegen eine Gewebespende muss leider häufig durch die Angehörigen getroffen werden, da sich nur wenige Menschen zu Lebzeiten festlegen und das im Organspendeausweis, der Patientenverfügung oder anderweitig dokumentieren. Wir informieren dann und bieten immer ein zweites Gespräch an. Wir wollen nicht, dass Angehörige im Nachgang Zweifel an ihrer Entscheidung haben, wie immer diese ausfällt.

Wie ist die Reaktion?

Wir bekommen bei jedem dritten Gespräch mit Angehörigen eine Einwilligung. Das zeigt die Bereitschaft in der Bevölkerung. Viele Menschen empfinden eine Gewebespende als sinnvoll, auch weil sie oft Empfänger im Bekanntenkreis haben.

Es gibt Fälle, in denen Angehörige von mehreren Stellen angesprochen werden. Mal geht es um Gewebe, mal um Organe. Für Menschen in Trauer ist das sehr belastend.

Das soll nicht sein, seit 2007 ist das per Gesetz verbindlich geregelt. Der zuständige Arzt muss aufklären und fragt bei einer Organspende auch nach Gewebe. Wir werden informiert, wenn es auch dafür eine Zustimmung gibt.

An der MHH als großem Transplantationszentrum arbeitet eigens eine Koordinatorin der Deutschen Gesellschaft für Gewebetransplantation (DGFG). Die Ärzte informieren Romy Richter über den Tod von Patienten, die als Gewebespender in Frage kommen. Sie spricht mit den Angehörigen, meist per Telefon. Und versucht, in der heiklen Situation niemanden zu verstören. „Uns ist es wichtig, dass Angehörige die Entscheidung in der Familie besprechen.“ Stimmt die Familie zu, bleibt Richter meist nicht mehr viel Zeit. Die meisten Gewebearten kann sie bis zu 48 Stunden nach Todeseintritt entnehmen. Bei Herzklappen muss es schneller gehen, innerhalb weniger Stunden. An der MHH gibt es dafür die Möglichkeiten.

Doch die meisten Herzklappen stammen bisher noch aus Organspenden, wenn sich ein Herz als Ganzes nicht als tauglich erweist. Die DGFG will davon unabhängiger werden, denn Organe lassen sich nur im Fall eines Hirntodes entnehmen. Dagegen haben viele Menschen Vorbehalte, die Zahl der Spender stagniert. Deshalb will die DGFG mehr Krankenhäuser für die Herzklappen-Spende gewinnen. Patienten und Angehörige sind oft in beeindruckender Weise zur Gewebespende bereit, glaubt Mediziner Sarikouch. „Die Eltern eines todkranken Säuglings haben uns einmal selbst angesprochen. Das Herz ihres Kindes hat später zwei anderen Kindern geholfen.“

Von Bärbel Hilbig

HAZ

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