E-Paper
Familiendrama im Kreis Peine

Vater ersticht seine vier schlafenden Kinder

Foto: Ein Ermittler sichert Beweismittel aus dem Reihenhaus, in dem vier Kinder zu Tode kamen.

Ein Ermittler sichert Beweismittel aus dem Reihenhaus, in dem vier Kinder zu Tode kamen.

Groß-Ilsede.  Der kleine Garten hinter dem grauen Reihenhaus lässt an eine Familie mit fröhlichen Kindern denken. Gemauerter Kamin, Schaukel, Fußballtor, Rutsche, Spielhaus, Sandkasten. Wer aber an diesem trüben Junitag in den Garten in Groß Ilsede (Kreis Peine) blickt, weiß, dass lange Zeit keine Kinder mehr in diesem Garten spielen und lachen werden. Die drei kleinen Jungen und die zwölfjährige Pia, die den Spielplatz mit Leben erfüllten, sind tot. Getötet von ihrem eigenen Vater. Andreas S. schnitt ihnen am Donnerstagabend die Halsschlagadern auf, wie es heißt. Danach legte der 36-Jährige Hand an sich selbst, um zu sterben.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Die Mutter der Kinder war zu dieser Zeit in Dänemark im Urlaub. Sie hatte sich einige Wochen zuvor von ihrem Mann getrennt. Andreas S. war daraufhin ausgezogen und lebte nur einige Häuser entfernt bei seiner Schwester. Vater und Mutter kümmerten sich gleichwohl weiter im Wechsel um die Kinder. Für Andreas S. war diese Trennung offensichtlich unerträglich. Der Angestellte einer Autobahnmeisterei schickte seiner Frau darum an diesem späten Donnerstagabend eine Kurzmitteilung auf dem Handy. Er sehe keinen Sinn mehr, „auf diese Weise“ mit seinen Kindern zu leben, heißt es darin.

Als Tanja S. die SMS erhielt, war sie alarmiert. Sie wusste, dass ihr Mann psychische Probleme hatte. Sie fürchtete, dass „etwas Schreckliches“ geschehen war, wie bei der Staatsanwaltschaft Hildesheim zu erfahren ist. Sie rief daher sofort bei Freunden und Verwandten in Ilsede an, die im Schmedenstedter Weg nach dem Rechten sehen sollten. Doch niemand öffnete die Tür des Reihenhauses. Die Freunde verständigten daher umgehend die Polizei und einen Notarzt. Als die herbeigeeilten Beamten die Tür aufgebrochen hatten, stockte ihnen der Atem: Sie fanden im Schlafzimmer vier tote Kinder in ihrem Blut – Pia und ihre Brüder im Alter von fünf, sieben und neun Jahren. Daneben der Vater, der sich selbst die Pulsadern aufgeschnitten und weitere Schnittverletzungen zugefügt hatte.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Im Unterschied zu den Kindern aber war der Mann noch am Leben. Andreas S. wurde in ein Gefängniskrankenhaus eingeliefert und in ein künstliches Koma versetzt. In seinem Haus fand sich ein Abschiedsbrief. Er sehe keine andere Möglichkeit, mit seinen Kindern zusammenzubleiben, als gemeinsam mit ihnen zu sterben, teilt S. darin mit. „Er legte auch Wert darauf, gemeinsam mit seinen Kindern beerdigt zu werden, um im Tod mit ihnen vereint zu sein“, sagt der Hildesheimer Oberstaatsanwalt Bernd Seemann.

Am nächsten Morgen sind Männer in weißen Overalls damit beschäftigt, die Spuren im Haus zu sichern. Zur gleichen Zeit werden die vier toten Kinder obduziert. Dabei geht es vor allem um die Frage, unter welchen Umständen die vier Kinder getötet wurden. Staatsanwalt Seemann vermutet, dass die Kinder im Schlaf erstochen wurden. Nur eines der Kinder weise deutlich sichtbare Abwehrspuren auf. Niemand in der Nachbarschaft habe Schreie gehört.

Dabei lebte Familie S. in ihrem Reihenhaus Wand an Wand mit ihren Nachbarn zusammen. Das Entsetzen über die Familientragödie ist groß am Tag danach. Manche ringen um Worte, um das Unfassbare zu beschreiben, andere sind so schockiert, dass sie lieber gar nichts sagen möchten. „Ich bin fix und fertig“, sagt eine Rentnerin, die an diesem traurigen Tag Geburtstag hat und sich fast ein wenig der Blumen zu schämen scheint, die sie in den Händen hält. „Ich kenne die Familie“, sagt die 71-Jährige, näheren Kontakt habe sie aber nicht gehabt. „Hier hat man überhaupt nur wenig Kontakt zueinander.“

In der Tat erweckt die Wohnstraße mit den Mehrfamilienhäusern und hohen Hecken bei aller Nähe den Eindruck, als würde hier jeder für sich leben. Reinhard Waldhauer passt nicht in dieses Bild. „Ich habe gleich geahnt, dass da was Schlimmes passiert sein muss, als ich heute früh mit meinem Hund rausgegangen bin und die vielen Polizeifahrzeuge und das Absperrband gesehen habe, sagt der 64-Jährige. „Und dann die Leichenwagen. Ich habe sofort an die Kinder gedacht. Die Probleme waren ja bekannt.“ Und der Rentner im Freizeitdress bestätigt, dass zu den Eheproblemen seines Nachbarn auch psychische Schwierigkeiten gekommen seien. Depressiv sei der Mann gewesen – depressiv und herzkrank. „Früher war er immer sehr nett und freundlich, aber in den letzten Wochen wirkte er ziemlich verschlossen.“ Dennoch habe er sich weiter liebevoll um seine Kinder gekümmert. „Noch vor wenigen Tagen hat er mit ihnen hier auf dem Parkplatz mit Bobbycars gespielt.“ Auch an seinem Haus habe S. viel ge­werkelt. Neue Fenster eingesetzt, den Schornstein repariert. Als Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr habe S. auch im Dorfleben eine aktive Rolle gespielt. Nach der Trennung aber sei der Nachbar „wie ausgewechselt“ gewesen. „Da bricht ’ne Welt zusammen, wenn die Ehe kaputtgeht“, sagt Waldhauer. „Und wenn man sowieso schon angeschlagen ist, dann passiert so was.“

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Was genau passiert ist, stand am Freitag noch nicht fest. Denkbar ist, dass Andreas S. seinen Kindern vor der Tat ein Schlafmittel verabreicht hat. Aber der Mann, der bisher strafrechtlich noch nie in Erscheinung getreten ist, kann dazu derzeit nicht befragt werden. Andreas S. wird vermutlich noch längere Zeit im künstlichen Koma bleiben. Wenn er aufwacht und sich äußern kann, soll ein Haftbefehl gegen ihn erlassen werden. „Wir gehen von einem Mord aus“, sagt Staatsanwalt Seemann. Die Mutter der Kinder ist zwar aus Dänemark zurück, aber noch nicht vernehmungsfähig. Tanja S. hat vor einigen Jahren für ihre Kinder Märchen geschrieben und diese auch bei Autorenlesungen öffentlich vorgetragen. „Mira, die sich ins Feenland träumt“, heißt eine ihrer Phantasiegeschichten.

Selbst erfahrene Polizeibeamte lässt diese Tragödie nicht kalt. „Da drin ist alles voller Blut“, sagt der Polizist Thomas Reinicke, der den Hauseingang bewacht. „Ich geh’ da nicht rein, ich will das nicht sehen.“ Auch Otto-Heinz Fründt, stellvertretender Bürgermeister der 11.700-Einwohner-Gemeinde, ist erschüttert. „Ich bin wie gelähmt“, sagt Fründt. Seine Enkeltochter kennt die getötete Pia aus der Schule, Sarah geht auf dem Gymnasium Ilsede in Pias Parallelklasse und ist schockiert wie all ihre Mitschüler. Ähnlich ist es auf der Grund- und Hauptschule, wo nun die Plätze von Pias jüngeren Brüdern frei bleiben.

Manche der Schüler nahmen am Freitagabend in der Ilseder Nikolaikirche an einer stillen Andacht teil, die Pastor Walter Faerber hielt, der als Notfallseelsorger zum Ort der Familientragödie gerufen worden war. Viele Tränen flossen bei den Gebeten. Zu einem anderen Ort der Andacht ist auch der Schmedenstedter Weg geworden. Vor dem Haus der toten Kinder legten im Laufe des Tages immer mehr Menschen Blumen und Kerzen ab. Wo am Tag zuvor noch Kinder spielten, herrscht jetzt Grabesstille.

HAZ

Mehr aus Der Norden

 
 
 
 
Anzeige
Anzeige

Spiele entdecken